Die kritische Auseinandersetzung mit psychiatrischen Gutachten, die von Zivilgerichten zur Feststellung einer streitigen Berufsunfähigkeit eingeholt werden, nimmt in unserer anwaltlichen Praxis einen immer größeren Raum ein. Leider scheuen sich die erstinstanzlichen Gerichte häufig, wegen Mängeln der Begutachtung - auf unseren Antrag hin - ein neues psychiatrisches Gutachten durch einen anderen Sachverständigen einzuholen. Immerhin ist dieses mit erheblichen zusätzlichen Kosten und einem erheblichen zusätzlichen Zeitaufwand verbunden. Gleichzeitig stellen wir aber eine wachsende Bereitschaft der Berufungsgerichte fest, sich mit unserer Kritik an psychiatrischen Gutachten sorgfältig auseinanderzusetzen und ggf. ein neues Gutachten durch einen anderen Gutachter einzuholen, so auch im vorliegenden Verfahren.
Leitsatz:
- Ein psychiatrisches Gutachten zur Feststellung der Berufsunfähigkeit genügt den Anforderungen nicht, wenn es lediglich auf ärztliche Zeugnisse Bezug nimmt, die allein die Angaben des Versicherungsnehmers referieren. Dem Gutachten muss sich in jedem Fall die eingehende Exploration des Patienten und eine kritische Überprüfung der Beschwerdeschilderung entnehmen lassen.
- Die nachvollziehbare Erfassung des allgemeinen Funktionsniveaus des Versicherungsnehmers nach der sog. GAF-Skala kann im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung auch in die Beurteilung der Berufsunfähigkeit einfließen.
Sachverhalt:
- Zwischen den Parteien besteht seit dem 06.03.2003 eine Fondsgebundene Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung.
- Dem Vertrag lagen die Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (im folgenden BUZ) zugrunde. In § 1 ist geregelt.
„(1) Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens 6 Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % außerstande ist, ihren zuletzt vor Eintritt dieses Zustands ausgeübten Beruf nachzugehen. …..
(4) Wird uns nachgewiesen, dass ein in Abs. 1 oder 3 beschriebener Zustand für einen Zeitraum von 6 Monaten ununterbrochen vorgelegen hat, gilt dieser Zustand von Beginn an als Berufsunfähigkeit.“ - Die als Zahnarzthelferin ausgebildete Klägerin übte von 2008 bis zur Kündigung im Februar 2013 eine Tätigkeit als leitende Angestellte in einem zahntechnischen Labor aus.
- 19.03.2012 bis 25.04.2012: teilstationäre Behandlung wegen einer rezidivierenden depressiven Störung sowie einer Panikstörung; Kl. wurde als arbeitsunfähig entlassen und nahm in der Folge ihre Tätigkeit bei dem Dentallabor nicht wieder auf.
- November 2012: Aufnahme einer Nebentätigkeit als Klangtherapeutin/Entspannungstrainerin für Kinder bis zumindest 2015
- 18.12.2013 bis 31.01.2014: weiterer stationärer Aufenthalt unter der Diagnose Angst und depressive Störung
- 31.01.2014 bis 25.06.2014: teilstationäre Behandlung
- 13.03.2014: Leistungsantrag wegen einer seit Dezember 2013 bestehenden Berufsunfähigkeit
- 2014: Beginn einer Ausbildung als Osteopathin, die die Kl. im Sommer 2016 abbrach.
- Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt war sie zudem nebenerwerblich bis zu drei Stunden täglich als Assistentin in einer osteopathischen Praxis tätig.
- LG Dresden hat Klage mit der Begründung stattgegeben, es sei aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. S. davon überzeugt, dass die Klägerin ihre zuletzt an gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit als leitende Angestellte in einem Dentallabor aufgrund ihres seelischen Krankheitszustandes nicht mehr auszuüben vermag.
Rechtliche Würdigung des OLG Dresden:
- Aufhebung des Urteils des LG und Klageabweisung
- Kl. hat auch nach Einholung eines neuen psychiatrischen Gutachtens durch das OLG nicht den Eintritt der Berufsunfähigkeit als leitende Angestellte in einem Dentallabor bewiesen
- Zur Notwendigkeit der Einholung eines neuen psychiatrischen Gutachtens durch einen anderen Sachverständigen gem. § 412 Abs. 1 ZPO:
- Die vom erstinstanzlich tätigen Sachverständigen Prof. Dr. S. gestellte Diagnose einer Dysthymie mit Antriebsstörung und Angststörung lässt nicht ohne weiteres auf das Vorliegen einer die Berufsunfähigkeit der Klägerin begründenden Krankheit schließen. Das Krankheitsbild einer Dysthymie wird regelmäßig nur durch leichtgradige depressive Symptome charakterisiert, die gerade nicht so schwer ausgeprägt sind, dass sie zu wesentlichen Einschränkungen führen. Vor diesem Hintergrund sind die Annahmen des erstinstanzlichen Sachverständigen in sich widersprüchlich. Abgesehen davon, dass der Sachverständige Prof. Dr. S... ohnehin nur von „möglicherweise“ bestehenden schwerergradigen Einschränkungen im Alltag ausgeht, verweist er zur Begründung zudem allein darauf, dass die Klägerin angegeben habe, sie brauche zur Versorgung ihres Kindes zeitweise die Unterstützung ihrer Mutter, ohne dies jedoch weiter zu hinterfragen.
- Es tritt hinzu, dass sich die Begutachtung durch den erstinstanzlichen Sachverständigen auch methodisch als nicht in jeder Hinsicht überzeugend darstellt, da eine intensive Exploration der Klägerin nicht erfolgt ist.
- Es genügt nicht, auf ärztliche Zeugnisse Bezug zu nehmen, die nur Angaben des Versicherungsnehmers referieren und daraus einen diagnostischen, klassifikatorischen Schluss ziehen. Vielmehr müssen alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft werden.
- Dabei gilt es vorab zwischen (subjektiven) Beschwerdeschilderungen und (objektiven) Befunden zu unterscheiden. Ein Befund kann sich dabei zwar auch aus einer validen Beschwerdeschilderung ergeben. Dem Gutachten von Prof. Dr. S... lassen sich aber keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Sachverständige die Angaben der Klägerin im Rahmen des zweistündigen Anamnesegesprächs auch in Bezug auf die referierten Vorbefunde kritisch hinterfragt oder hinreichend überprüft hat, ob die von ihm festgestellte Dysthymie sie tatsächlich hindert, als maßgeblich bewertete Teiltätigkeiten auszuüben.
- Gegen die Annahme des Sachverständigen Prof. Dr. S., die Klägerin habe ihre berufliche Tätigkeit nicht ausüben können, spricht daher bereits, dass der Gutachter selbst keine Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen bei der Klägerin feststellen konnte, was er freilich auf den Umstand zurückführt, dass die Klägerin im Rahmen der Begutachtung nur hätte Fragen beantworten müssen. Dies kann aber wiederum nicht zugunsten der Klägerin berücksichtigt werden, da der Sachverständige keine Testung zur Beschwerdevalidierung durchgeführt hat. Hinzu kommt, dass sich in den Vorbefunden des ……… keine Hinweise auf stark eingeschränkte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen bei der Klägerin fanden, obwohl auch Dr. G... - anders als Prof. Dr. S... - einen umfangreichen testpsychologischen Untersuchungsbefund erhoben hat.
- Schließlich war auch eine Antriebsminderung, die für die Frage von Alltagseinschränkungen und für das Vorliegen einer chronifizierten schwerergradigen Depression entscheidend ist, im Rahmen der Begutachtung durch Prof. Dr. S... gerade nicht nachweisbar. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich der Sachverständige insoweit ausreichend mit den Vorbefunden auseinandergesetzt hätte.
- Schließlich finden sich keine Hinweise darauf, dass die Klägerin in ihrer Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt ist, was für die Frage von krankheitsbedingten beruflichen Einschränkungen wichtig ist. Vielmehr lässt sich den Vorbefunden, in denen eine problemlose Einfügung in Therapiegruppen und unbeschränkte Schwingungsfähigkeit festgestellt wird und auch dem Gutachten des Prof. Dr. S... entnehmen, dass sich die Klägerin im Kontakt als zugewandt dargestellt hat. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin trotz der von ihr selbst als erheblich beurteilten Auswirkungen ihrer Krankheit im Alltag eine Ausbildung/Tätigkeit als Klangschalentherapeutin in eigenen Räumen und mit einem entsprechenden Internetauftritt sowie als Osteopathin und eine nebenerwerbliche Tätigkeit in diesem Bereich aufgenommen hat.
- Beweiswürdigung des OLG nach Einholung eines neuen psychiatrischen Gutachtens:
- Der Sachverständige hat zwar wie die vorbehandelnden Ärzte und Vorgutachter bei der Klägerin krankheitswertige psychische Beeinträchtigungen in Form einer Panikstörung, einer generalisierten Angststörung, einer depressiven Störung und einer somatoformen autonomen Funktionsstörung angenommen. Er kommt aber im Ergebnis seiner Begutachtung zu dem Schluss, dass die von ihm festgestellten psychischen Störungen sich nicht soweit auf die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin auswirken, dass sie dauerhaft weniger als die Hälfte ihres früheren Arbeitspensums als leitende Angestellte in einem Dentallabor bewältigen könnte.
- Zur Begründung führt der Sachverständige in seinem Gutachten vom 18.03.2019 aus, dass er bei der Klägerin in Bezug auf die psychosozialen Kriterien einschließlich der Organisation der Lebensführung keine quantitativen Leistungseinschränkungen feststellen konnte. Die Klägerin habe im Rahmen der Begutachtung bei den kognitiven Merkmalen wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnisleistungen und kognitive Flexibilität in Form einer unbeeinträchtigten Auffassungsgabe keine wesentlichen Einschränkungen gezeigt, was er selbst gestützt auf die Testauswertung und insbesondere auch auf das von ihm mit der Klägerin geführte Gespräch habe feststellen können. Sie sei in ihrem formalen Denken nicht eingeschränkt gewesen. Das von ihr als Derealisationserleben bezeichnete Entfremdungsgefühl sei als leichtgradig einzustufen; soweit sie unter einem Depersonalisationserleben leide, sei dies maximal als mittelgradig einzustufen. Bei der Klägerin imponierten Symptome einer Panikstörung, die aber nicht so ausgeprägt seien, dass sie - auch in der Vergangenheit - zu wesentlichen Einschränkungen ihrer sozialen Funktionsfähigkeit geführt hätten.
- Dies schließt der Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend aus dem Umstand, dass die Klägerin trotz der von ihr angeführten Symptome auch in der Vergangenheit stets positive Ressourcen in der allgemeinen Lebensführung gezeigt hat. Unstreitig war sie durchgängig in der Lage, ihren Haushalt mit den vielfältigen Anforderungen auch während einer Schwangerschaft zu bewältigen, die Versorgung ihres Kindes sicherzustellen, zur Freizeitgestaltung ein Fitnessstudio zu besuchen und ihrem Tag insgesamt eine Struktur zu geben. Darüber hinaus hat sie auch eine Ausbildung zur Klangtherapeutin bzw. Osteopathin aufgenommen und war nebenerwerblich in beiden Berufen tätig.
- Seine Einschätzung hat er für den Senat überzeugend im Rahmen einer Gesamtbewertung auf seine klinische Erfahrung, das Ergebnis des Anamnesegesprächs sowie die von ihm ausgewerteten Befundberichte gestützt. In diesem Zusammenhang hat er auf die nur mäßig ausgeprägten Symptome in der sogenannten GAF-Skala (Global Assessment of functioning-scale) hingewiesen, mit der das allgemeine Funktionsniveau einer Person in realistischer Sicht erfasst werde. Hier sei auffällig gewesen, dass die Klägerin im Rahmen der durchgeführten Testpsychologie aktiv mitgearbeitet habe und sofort „in der Materie drin“ gewesen sei. Da ihre Konzentration und Auffassungsgabe von der bei ihr festgestellten Panikstörung nicht beeinträchtigt werde, könne auch nicht hinreichend sicher von dieser Störung auf Einschränkungen bei den konkreten Merkmalen ihrer Berufstätigkeit ausgegangen werden. Im Ergebnis gelte dies auch für die gegenwärtig als leichtgradig einzustufende depressive Symptomatik.
- Soweit der Sachverständige in den leistungsdiagnostischen Untersuchungsbefunden eine schwerer ausgeprägte Symptomatik bezüglich typisch depressiver Symptome festgestellt hat, hat er diese angesichts der klinisch-psychopathologischen Untersuchungsbefunde auf bei der Klägerin bestehende Aggravationstendenzen zurückgeführt.